"Erstens, du sollst keine Angst haben!"

Wie Chinas zensierte Medien für mehr Demokratie trommeln

23. April 2008
Von Zhu Yi und Katrin Altmeyer
Von Zhu Yi und Katrin Altmeyer


Deine Zeit ist gekommen!“ So überschrieb der Blogger Wang Xiaofeng seinen Kommentar über den Bau eines Chemiewerks in der südchinesischen Küstenstadt Xiamen. Zehntausende Bürger gingen dort Anfang Juni 2007 für mehrere Tage auf die Straße und forderten eine Überprüfung des geplanten Großprojekts, das in unmittelbarer Nähe zu einem Wohngebiet entstehen sollte.

Die Debatte um den Bau des Chemiewerks machte in ganz China Schlagzeilen. Den lokalen Medien wurde allerdings von der Stadt die Berichterstattung über die Proteste untersagt, und überregionale Zeitungen und Magazine, die kritische Artikel enthielten, wurden beschlagnahmt. Doch das Internet war nicht vollständig zu kon trollieren. Private Blogs verbreiteten die Informationen blitzschnell, und als die Stadtregierung diese Webseiten sperrte, griffen die Bürger zum Mobiltelefon. Eine Million sms gegen das Chemiewerk schwirrten durch die 2,8-Millionen-Stadt. Und als der lokale Netzwerkbetreiber Nachrichten, die zur Demonstration aufriefen, blockierte, verabredeten sich Tausende von Bürgern per sms zu einem „Spaziergang“. Nach zwei Tagen Demonstrationen lenkte die Stadtregierung ein und kündigte an, das Chemieprojekt vorerst auszusetzen und dessen Umweltverträglichkeit neu zu prüfen.

„Deine Zeit ist gekommen!“ triumphierte Wang Xiaofeng, der durch seine satirischen Texte bekannt geworden ist. Dieses Mal schrieb er mit Ernst und einem ungewohnten Optimismus: „Die Zeit ist vorbei, da die Medien nur als Sprachrohr (der Partei) dienten und das Volk keinen Zugang zu Informationen hatte. (…) Ja, jetzt ist deine Zeit gekommen und der Platz, auf dem du das Sagen hast.“

China hat heute 140 Millionen Internet-Nutzer
und etwa sechzig Millionen Blogs und wird damit bald die usa überholen. Vor allem junge, gut ausgebildete Städter nutzen die neuen Medien. Die aufstrebende Mittelschicht galt bisher als wenig aufmüpfig oder politisch interessiert, doch in Xiamen war sie es, die die Regierung herausforderte. Denn viele der Demonstranten hatten dort, wo das Chemiewerk gebaut werden sollte, Wohnungen gekauft.

Doch was Xiamens Bürger auf die Straßen trieb, war nicht nur die Sorge um Gesundheit oder den Wert der Immobilie, sie erhoben den Anspruch auf Mitsprache in öffentlichen Angelegenheiten. Ihre Hauptforderung war die Veröffentlichung der gesetzlich vorgeschriebenen Umweltverträglichkeitsstudie. Gerade erst hat die Zentralregierung für 2008 ein Gesetz angekündigt, das den Bürger Einblick in die staatlichen Planungsprozesse ermöglichen soll. Nun scheint es, als wollten die Bürger so lange nicht warten.

Aber auch professionelle Journalisten spielten für den Erfolg der Demonstranten eine Rolle. Obwohl Wissenschaftler schon vor Monaten Bedenken gegen den Bau des Chemiewerks vorgebracht hatten, wurden Öffentlichkeit und Politik erst aufmerksam, als der populäre Kolumnist Lian Yue eine Serie von Online-Artikeln veröffentlichte. „Bürger in Xiamen, so müsst ihr handeln“ war ein Artikel überschrieben, der mit dem Aufruf einsetzte: „Erstens, du sollst keine Angst haben!“

Seit Ende der 1990er-Jahre
ist der Mediensektor im Umbruch. Große halbstaatliche Konglomerate sind entstanden, die vor allem den Gesetzen des Markts gehorchen. Heute gibt es in China mehr als 2 000 Zeitungen, fast 9 000 Magazintitel und 374 Fernsehsender, die um Leser, Zuschauer und Werbeeinnahmen konkurrieren. Das hat die Berichterstattung revolutioniert, eine Vielfalt neuer Formate und Inhalte sind die Folge. Obwohl die radikale Kommerzialisierung vor allem Unterhaltung und Lifestyle fördert, etablierte sich auch ein investigativer, kritischer Journalismus.

So reiste Bei Feng, ein Reporter aus der Nachbarprovinz Guang zhou (Kanton) nach Xiamen, um die Vorfälle dort zu dokumentieren. Als die Demonstranten Probleme bekamen, weil der örtliche Netzwerkbetreiber ihre sms blockierte, schickte er seine Berichte via Mobiltelefon nach Guangzhou – durch das Netz des dortigen Anbieters. Ein Kollege leitete die Berichte weiter und Internetnutzer in ganz China konnten die Ereignisse in Xiamen live verfolgen.

Viele traditionelle Medien griffen die Geschichte auf. Etliche Magazine und Tageszeitungen veröffentlichten Hintergrundartikel mit vorsichtig formulierten, aber eindeutigen Kommentaren. Sogar Chinas zentrales Staatsfernsehen cctv berichtete kritisch. Die lokale Presse in Xiamen musste allerdings schweigen.

Örtliche Medien
agieren im unmittelbaren Einflussbereich der lokalen Regierungen, deren Vertreter oft persönliche Interessen verfolgen oder in Korruptionsfälle verwickelt sind. Daher wird Enthüllungsjournalismus häufig von den Zeitungen und TV-Stationen der Nachbarprovinzen aus betrieben. In den letzten zwei, drei Jahren haben fast alle traditionellen Medien eigene Online-Versionen eingerichtet oder sie verbreiten Fernsehprogramme digital und per Satellit und erreichen damit ein Millionenpublikum.

So war es auch im Juni 2007, als ein Skandal in der zentralchinesischen Provinz Shanxi das Land erschütterte, weil Fabrikbesitzer Arbeiter wie Sklaven hielten und die Behörden tatenlos zusahen. Wieder war es ein Journalist der Nachbarprovinz, der die Geschichte ins Rollen brachte.

Dieser unerschrockene Journalismus ist der Zentralregierung einerseits willkommen, da sie so auf Missstände in den entfernten Provinzen aufmerksam wird, andererseits ist er nicht allen Regierungsstellen geheuer. Gerade die Behörden, die für die Regulierung der Medien zuständig sind, allen voran das Zentrale Propaganda komitee der Partei, heute in „Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit“ umbenannt, zeigen sich unflexibel. Berichterstattung über Unruhen und Katastrophen destabilisiere die Gesellschaft, heißt es, und Chinas Bürger seien nicht reif für eine freie Presse. Nachrichten werden unterdrückt, Webseiten blockiert und den Medien im Detail vorgeschrieben, was sie zu tun und zu lassen haben.

Mutige Journalisten gehen allerdings davon aus, dass alles, was nicht ausdrücklich verboten ist, erlaubt sei, und testen täglich die Grenzen aus. Ungefährlich ist dies nicht. Zahlreiche Reporter und Internetblogger sitzen derzeit in Haft, laut Amnesty International mussten mehrere aufl agenstarke Zeitungen ihr Erscheinen einstellen, Hunderte internationaler Internetadressen wurden gesperrt und Tausende chinesischer Webseiten geschlossen.

Doch in letzter Zeit
werden Stimmen auch von staatlichen Behörden lauter, die nach verantwortlichen Medien rufen. So fordert die Umweltagentur sepa, die Medien sollten ihre Rolle als social watchdog wahrnehmen. Und Premier Wen Jiabao spricht immer öfter davon, dass die Medien eine Kontrollfunktion hätten.

Im April 2007 wurden postum (und mit ausdrücklicher Billigung der Partei) die Überlegungen des früheren Chefs der Propagandaabteilung Lu Dingyi (1906 – 1996) veröffentlicht, in denen er die Funktion der Presse für die Bekämpfung von Korruption innerhalb der Partei würdigte. Im Juni, gleich nach den Skandalen um die Sklavenarbeit und nach den Protesten in Xiamen, rief die Parteihochschule die Mitglieder auf, politische Meinungsäußerung im Internet als neue Form chinesischer sozialistischer Demokratie zu begrüßen. Und die staatliche englischsprachige China Daily feierte den Reporter, der den Sklavenskandal aufdeckte, als Helden und Vorbild. Ebenfalls in den letzten Monaten wurden mehrere Gesetzesentwürfe, die die Medienfreiheit einschränken sollten, wieder kassiert, darunter das Verbot, über Naturkatastrophen und soziale Unruhen ohne ausdrückliche Genehmigung der Behörden zu berichten, und den Zwang für Internetblogger, sich mit ihrem richtigen Namen zu registrieren.

Der Journalist Bei Feng
kommt zu dem Schluss, dass die absolute Blockade aller Informationen heute ohnehin nicht mehr aufrechtzuerhalten sei, zu schnell verbreiteten sich Informationen im Internet. Er versteht seine Berichterstattung über die Proteste in Xiamen als praktizierten Bürgerjournalismus.

Dieser Bürgerjournalismus kann auch hässliche Seiten haben. So sind Hetzkampagnen im Internet ein häufi ges Phänomen. In öffentlichen Foren etwa wird jemand unmoralischen Verhaltens wegen angeprangert. Daraufhin formiert sich ein Mob von Tausenden Usern, welche die Privatadressen aufdecken und den Beschuldigten in der virtuellen und realen Welt verfolgen und belagern. Auch die nationalistischen, gegen Japan gerichteten Demonstrationen, die Anfang 2005 überall in China stattfanden, wurden per sms und Internet organisiert. Nachdem die Regierung anfangs diese „patriotischen Demonstrationen“ unterstützt haben soll, gerieten diese bald außer Kontrolle – es wurde deutlich, welches Potenzial für Aufruhr vorhanden ist.

Täglich gehen irgendwo in China
Menschen gegen Behördenwillkür, Umweltverschmutzung und Ungerechtigkeit auf die Straße. Gerade darum braucht China unabhängige Medien, denen die Bürger vertrauen können und die Korruption und Amtsmissbrauch aufdecken. Die Vertuschung von Problemen führt zu Spekulationen, Gerüchten und Panik. Das hat die Regierung schon während des sars-Ausbruchs 2003 feststellen müssen, als jeder wusste, dass eine unbekannte Krankheit grassiert, die Medien das aber über Wochen leugneten.

Fazit
Ob die Partei ihre Medienpolitik in naher Zukunft grundlegend ändern wird, scheint unwahrscheinlich. Doch die Spielräume sind größer geworden, und die Medienvertreter selbst verschieben die Grenzen des Machbaren jeden Tag ein wenig weiter.


Der Text wurde Böll.Thema, Ausgabe 02/2007 entnommen

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